Das ist die üppige Sommerzeit, wo alles so schweigend blüht und glüht..., so heißt es im Gedicht Zur Erntezeit von Gottfried Keller. Die Erntezeit hat nun auch bei uns in der Feldflur Einzug gehalten. Damit endet die üppige Sommerzeit für unser heimisches Wild.
Wer in diesen Tagen einen Spaziergang durch die Feldflur unternimmt, wird feststellen, dass zwischenzeitlich fast alle Äcker abgeerntet wurden. Nur noch Maispflanzen sind zu sehen; sind auch diese abgeerntet, reicht der Blick wieder bis zum Horizont. Quasi über Nacht hat der Lebensraum Kulturlandschaft sein Gesicht fast völlig verändert.
Gab es für die Wildtiere vor Wochen noch Äsung und Deckung im Überfluss, finden sie jetzt, nur Tage später, an gleicher Stelle nur noch Stoppeln oder die nackte Ackerkrume vor. Auf den Menschen übertragen, kommt diese Situation dem Verlust von Haus und Arbeit an nur einem Tage gleich, denn für unsere Wildtiere sind nicht nur die Futterregale plötzlich leer, nein, auch ihr "Wohnraum" ist verschwunden. Die Tiere finden sich quasi über Nacht in einer völlig veränderten Welt wieder.
So schnell ihrer Nahrungsgrundlage und Deckung beraubt, kommt es für einige dieser Wildtiere zu dem so genannten Ernteschock. Durch das Abernten der Felder ist das Nahrungsangebot plötzlich wesentlich schmaler geworden, es entsteht sogar eine Art Konkurrenzsituation. Der jetzt durch die Ernte entstehende Futtermangel ist oft schlimmer als der im Winter, denn er entsteht zu einer Zeit, in der es z.B. für das Rehwild gilt, die während der anstrengenden Paarungszeit verbrauchten Reserven aufzufüllen. Fressen ist jetzt die oberste Devise. Auch für eine gute Entwicklung der Rehkitze, die bis in den September hinein gesäugt werden, ist für die Ricke nun eine gehaltvolle Nahrung wichtig. Darüber hinaus sind möglichst große Fettreserven für die kalte Jahreszeit anzulegen. Sind die Felder leer, bleibt den Tieren zunächst nichts anderes übrig, als nach neuen Futterplätzen zu suchen. Dafür müssen sie nun folglich auch weitere Wege in Kauf nehmen und dabei wieder häufiger unsere Straßen queren.
Unsere Kulturlandschaft ist einem steten Wandel unterworfen. Die letzten größeren Veränderungen vollzogen sich mit dem Einzug einer eher industriellen Produktion, die durch eine Abkehr von kleinräumig gegliederten Ackerflächen gekennzeichnet war. Dieser Schritt war Folge einer Anpassung an veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die letztlich zu weniger, dafür aber größeren Betrieben führte und diesen das Überleben im ständigen Existenzkampf sicherte.
Verlierer dieser Entwicklung ist das Niederwild, hier speziell die Feldhühner, also Fasan, Rebhuhn und Wachtel. Das Rebhuhn ist unser typischstes Feldhuhn. Es meidet den Wald und verbringt selbst die Nacht in Deckung am Boden in der Feldflur. Es braucht eine strukturreiche Vegetation: nicht zu große Feldschläge, unkrautreiche Feldraine und Wegränder, Altgrasstreifen, Brachen, niedrige Gebüsche und Hecken. All dieses verschwand jedoch überwiegend aus der Landschaft, da eine eher industrielle Produktion den Einsatz von Maschinen in größerem Stil, auf größeren Flächen erfordert. Die Bestände an Feldhühnern haben in der Folge einen starken Einbruch erlitten, sich jedoch auf einem niedrigen Niveau stabilisiert.
In Zeiten schwindender Lebensräume für die Tierwelt ist es besonders wichtig, vorhandene naturnahe Flächen zu schützen aber auch Maßnahmen zur Schaffung neuer Rückzugsräume zu intensivieren. Den Jägern kommt dabei eine besondere Verantwortung zu, stehen sie doch häufig in direktem Kontakt zu den jeweiligen Grundstückseigentümern.
Die zweite große Veränderung in unserer Kulturlandschaft wird derzeit vollzogen. Mit dem zu Jahresbeginn in Kraft getretenen Erneuerbare Energien Wärmegesetz und der durch die EU geförderten Nutzung von Wärme aus Biogasanlagen, wird sich die Biogasproduktion weiter ausdehnen und das Bild unserer Kulturlandschaft weiter verändern. Da der Flächenbedarf zur Beschaffung von Biomasse größer wird, wird in der Nähe der Biogasanlagen der Anbau von Energiepflanzen weiter zunehmen. Die Pflanze mit dem höchsten Biomasseertrag pro Hektar ist der Mais. Der Energiehunger lässt die Maisflächen um diese Anlagen derzeit noch permanent wachsen. Selbst Maisschläge von über 50 ha Größe sind inzwischen anzutreffen. Für unsere Feldhühner schwindet damit weiterer Lebensraum.
Während Rehwild und Feldhase zeitweise im Mais Deckung und Äsung suchen, nutzt das Wildschwein ihn inzwischen komplett als Nahrungsquelle und Ganztagslebensraum. Die vorzüglichen Ernährungs- und Deckungsverhältnisse gepaart mit verminderter Bejagbarkeit führten zu einem deutlichen Anstieg der Wildschweinbestände und der durch sie verursachten Wildschäden. Auch der sich derzeit entwickelnde Konflikt im Spannungsfeld Jagd Landwirtschaft Tierseuchenbekämpfung, der durch die Schlagworte Überpopulation, Wildschaden und Schweinepest gekennzeichnet wird, ist zum Teil auch dieser Entwicklung geschuldet.
Mit dem plötzlichen Kahlschlag der Getreide- und Maispflanzen, finden Wildschwein und Niederwild auf den Ackerflächen keinen Wetterschutz und keine Deckung mehr. Es tritt der bereits beschriebene alljährliche Ernteschock ein. Während Wildschwein und Rehwild zurück in den Wald in ihre ursprünglichen Einstände wechseln, haben Feldhase und Feldhühner hier zunächst ihre Nahrungsgrundlage verloren, und finden weder vor der Witterung noch vor den Blicken ihrer Feinde Schutz. Manche Tiere sind mit dieser plötzlichen Schocksituation so überfordert, dass sie wie apathisch deutlich sichtbar auf den Feldern sitzen und für Habicht, Fuchs und Bussard leichte Beute sind.
Die Jägerschaft Rotenburg hat dieser Entwicklung Rechnung tragend, im Mai 2009 eine Projektgruppe ins Leben gerufen, die derzeit ein Naturschutzkonzept erarbeitet. Ziel dieses Naturschutzkonzeptes ist es, die Revierinhaber bei ihren bisherigen Bemühungen bei der Anlage von Wildäckern, Hecken, Blüh- und Huderstreifen, auch finanziell zu unterstützen, sowie den wildtiergerechten Zwischenfruchtanbau in Zusammenarbeit mit den Landwirten zu fördern und damit die Lebensraumsituation unseres Niederwildes zu verbessern. Dabei sollen möglichst viele Grundstückseigentümer, Landwirte und Revierinhaber für die Umsetzung von Naturschutzmaßnahmen gewonnen werden.
Ein ausreichendes Alternativangebot an Wildäckern, Hecken, Blüh- und Huderstreifen sowie Untersaaten von Gras- oder Kleebeständen, wie es durch das Naturschutzkonzept der Jägerschaft forciert werden soll, würde helfen, den Ernteschock zu mildern.
Um den Hunger der Biogasanlagen nach Biomasse zu stillen, gehen die Landwirte inzwischen zu einem sog. Zweikultur-Nutzungssystem über. Ziel dieses Systems ist es, auf ein und demselben Acker zwei Ernten einzufahren. Der Landwirt sät im Herbst nach der Maisernte z.B. Winterroggen, Triticale oder Wintergerste. Kurz nach dem Ährenschieben wird der komplette Aufwuchs als Biomasse für die Biogasanlage geerntet. Nach der nun folgenden Bodenbearbeitung wird sofort die zweite Kultur, meist Mais, Hirse, Sudangras o.ä. gesät, damit bis spätestens Oktober noch einmal eine Ernte mit möglichst hohem Biomasseanteil für die Biogasanlage eingefahren werden kann.
Für das Wild ist dann, sobald die Saat nach der Herbsternte wieder aufgelaufen ist, die Hungerperiode beendet und es bildet sich neben der Äsung auch ein meist schon als Deckung geeigneter Bodenbewuchs. Diese, auf den ersten Blick für das Wild positive Entwicklung, ist jedoch mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden. Gerade dann, wenn in der Brut- und Setzzeit, in den Monaten Mai bis Juli in der Feldflur das neue Leben heranwächst, ist Erntezeitpunkt im Zweikultur-Nutzungssystem und das Mähwerk oder die Häckseltrommel wird unerbittlich ihren Tribut fordern.
Dann ist er wieder da, der schon fast vergessene Ernteschock.